Auf der Couch neben dem Kachelofen wäre es an diesem Januarabend definitiv gemütlicher als bei Minusgraden im ungeheizten Passionsspielhaus. Doch wenn Regisseur Markus Plattner eine Probe ansetzt, sind die Erler verlässlich zur Stelle, Kälte hin oder her. Mit Mützen, Schals und Handschuhen stehen „Maria Magdalena“ Nicola Daxer und „Jesus“ Erwin Kronthaler auf der Bühne und versuchen, die Anweisungen des Regisseurs umzusetzen.
Alle sechs Jahre finden in dem 1500-Einwohner-Ort an der Grenze zu Bayern Passionsspiele statt – seit 400 Jahren. Das Passionsspiel ist den Erlern ein Herzensanliegen. Mehr als 500 Bewohner wirken als Darsteller oder hinter der Bühne aktiv mit. Die ältesten Mitspieler sind schon weit über 80, der oder die Jüngste wird oft erst während der Probenzeit geboren. „In Erl wachsen die Kinder mit der Passion auf“, erzählt Peter Esterl, Projektleiter der Passionsspiele.
Als Fünfjähriger hat er zum ersten Mal mitgespielt, mitten unter den Frauen, Männern und Kindern, die beim Einzug Jesu in Jerusalem „Hosanna“ jubeln. Als junger Mann gab er einen römischen Soldaten, später den Apostel Johannes, heute stellt der 44-jährige Englisch- und Sportlehrer den Hohepriester Kaiphas dar. Seit dem Herbst lässt er Haare und Bart wachsen. „Wenn man in Erl Männer mit langen Haaren und Vollbart trifft, weiß man: Es ist wieder Passionsspielzeit!“
In Erl kann grundsätzlich jeder bei der Passion mitwirken. Einzige Bedingung: Er oder sie muss hier wohnen oder geboren sein, so steht es in den Statuten. Die Rolle kann sich niemand aussuchen, ob man „im Volk“ dabei ist oder eine der Hauptfiguren übernehmen darf, entscheiden Projektleiter Esterl und der Regisseur. Auch für Chor und Orchester, Technik, Organisation und Marketing braucht es talentierte und engagierte Frauen und Männer. „Es ist nicht selbstverständlich, ein Jahr lang den Großteil seiner Freizeit zu opfern, da gehört ein gewaltiger Idealismus dazu“, betont Peter Esterl. Von November bis Mai wird an bis zu drei Abenden pro Woche geprobt. In der Aufführungszeit selbst gibt es nahezu keine freien Wochenenden. Selbst heiraten wird schwierig: Weil Pfarrer Thomas Schwarzenberger in diesem Jahr auch mitspielt, gibt es von Mai bis in den Oktober kaum Hochzeitstermine. Für die Erler ist es ganz normal, dass im Passionsspieljahr Ausnahmezustand herrscht. „Alle arbeiten auf ein gemeinsames Ziel hin. Das schweißt die Gemeinde unheimlich zusammen“, weiß Claudia Dresch. Die Kindergärtnerin kümmert sich um die Pressearbeit und steht als „Veronika“ auf der Bühne. „Das Schöne ist, dass man mit Menschen zusammenkommt, zu denen man sonst nicht so viel Kontakt hat.“
Markus Plattner, der nach der „Jubiläumspassion“ vor sechs Jahren auch 2019 wieder für die Regie verantwortlich zeichnet, hat gelernt, dass Passionsspiele mit keiner anderen Theaterproduktion vergleichbar sind. „Es gibt Traditionen, die berücksichtigt werden müssen.“ Dennoch gelang es ihm, die Erler für seine modernen Regie-Ideen zu begeistern. „Die Schauspieler sagen nicht nur brav ihren Text auf, sondern legen ihr eigenes Leben hinein. Sogar die alten Leute im ‚Volk‘ schreiben sich ‚Schwindelzettel’, damit sie wissen, wann sie murmeln müssen“, schmunzelt Claudia Dresch. Alle Mühen sind vergessen, wenn Ende Mai die Aufführungen beginnen. Rudi Buchauer, Briefträger in Erl, ist im Stück einer der Apostel: „Es ist immer wieder schön zu sehen, wie das Spiel die Zuschauer berührt, wenn man in ihre Gesichter schaut und die Leute Tränen in den Augen haben. Das ist uns wichtiger als der Applaus.“
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