Ihre Eltern und Ihre Geschwister wurden von Nationalsozialisten in Auschwitz und Mittelbau-Dora ermordet. Sie selber konnten entkommen. Was denken und fühlen Sie mit Blick auf das neue Europa, in dem sich der Nationalismus und Rechtsradikalismus immer weiter ausbreiten?
Ganz ehrlich – das macht mir große Angst. Nicht um mich, sondern um meine Kinder und Enkel. Geschichte passiert immer in Wellen. Es geht mal rauf, mal wieder runter. Im Moment habe ich das Gefühl, wir stehen in Europa da, wo wir ab 1938 schon einmal gestanden haben. Wir haben so viele Jahre in Frieden leben können, hoffentlich geht das nicht zu Ende.
Worauf führen Sie diesen starken Rechtsruck zurück?
Ich glaube, die Rechtsradikalen waren nie weg. Und, seien wir ehrlich, die Angst vor Fremden steckt in jedem von uns. In jedem! Aber dagegen müssen wir kämpfen. In unseren Herzen. Alle Menschen sind gleich, egal welche Hautfarbe sie haben oder woher sie stammen. Es gibt keinen Grund, andere Menschen zu hassen oder zu verdammen. Aber dieser Gedanke scheint so langsam aus den Köpfen zu verschwinden ...
... wie damals bei Adolf Hitler ...?
Genauso. Sehen Sie, ich bin viel in Schulen und rede mit den Kindern und Jugendlichen. Ihnen erkläre ich, dass Rassismus und Hass immer ganz klein anfangen, aber dass das dann langsam Formen annimmt und größer wird. Wie damals bei Hitler, da hat es auch klein angefangen. Deshalb müssen wir unsere wichtigste Waffe gegen die neue Rechte einsetzen, die wir haben: Wir müssen immer darüber sprechen und die anderen humanen Ansichten in die Öffentlichkeit tragen.
Nach Ihren schlimmen Erfahrungen im Krieg könnte Ihnen niemand verdenken, wenn Sie die Deutschen hassen.
Nein! Ich hasse Rassisten, Nazis oder Terroristen. Aber die gibt es überall. Da spielt die Nationalität doch keine Rolle. Ich habe am 4. Mai in Sachsenhausen eine Rede zum Holocaust gehalten. Darin erzähle ich, dass sich in Frankreich viele Juden nicht mehr mit der Kippa auf die Straße trauen – aus Furcht vor Übergriffen. Jetzt lese ich, dass dies auch in Deutschland passiert. Das macht mir Angst. Es ist scheinbar kein schleichender Prozess mehr, sondern schon viel weiter als wir denken.
Wollen wir die Zeichen nicht sehen?
Ich weiß nicht. Es erscheint mir eher wie damals in der Reichskristallnacht, dieser Mechanismus von Weggucken und Mitlaufen. Damals im November 1938 sind in wenigen Stunden Mitläufer zu Mittätern geworden. Auch wenn viele das immer abgestritten haben. Aber das realisieren wir nicht, sondern schauen weg oder verharmlosen die Anfänge.
In „Der beherzte Reviervorsteher“ erzählt der Berliner Autor Heinz Knobloch die Geschichte um den durch den Polizisten Wilhelm Krützfeld verhinderten Brand der Synagoge in der Oranienburger Straße während der Novemberprogrome. Aber erst 1995 wurde dieser mutigen Tat durch eine Bronzetafel am Eingang der Synagoge gedacht.
Ich kenne die Geschichte nicht, aber sie ist nicht nur ein beeindruckender Beweis für Zivilcourage, sondern erinnert mich auch an die Geschichte meines Volkes, der Sinti und Roma. Ich meine nicht die mutige Tat, sondern das sich daran Erinnern und Anerkennen.
Reichsführer-SS-Chef Heinrich Himmler befahl der Rassenhygienischen Forschungsstelle unter der Leitung von Dr. Robert Ritter 1928 die Erfassung aller Sinti und Roma im Deutschen Reich. Er erstellte mit seinen Mitarbeitern 24.000 „Rassegutachten“, die zur Vorbereitung des Völkermordes an den Sinti und Roma dienten. In der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Ärztebundes schrieb Dr. Kurt Hannemann im selben Jahr: „Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Juden und Zigeuner. Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge allmählich ausmerzen.“ Die Folge: 500000 Frauen, Männer und Kinder meines Volkes wurden von den Nazis ermordet. Aber ist nach dem Krieg etwas passiert? Nein! In den Nürnberger Prozessen wurde nur summarisch über unser Schicksal gesprochen. Aber das war es schon. Auch ich habe das schmerzlich erlebt.
Wieso?
Ich hatte nie damit gerechnet, zur Armee zu müssen. Ich war doch ein Sinto. Aber mein Vater hatte mich 1937 nach meiner Geburt in Den Haag registrieren lassen. Somit war ich im System erfasst. Anfang 1956 erhielt ich einen Einberufungsbefehl. Im Rathaus von Apeldoorn saß am Ende eines finsteren Flures ein kleiner, grauer Mann. Ich sagte zu ihm: „Ich habe eine Einberufung zum Wehrdienst erhalten. Mein Vater wurde aber im Krieg von den Deutschen ermordet. Stimmt es, dass ich den Dienst dann nicht antreten muss?“ Er fragte mich, ob ich das beweisen könne. Ich erklärte dem Beamten, dass mein Vater und der Rest der Familie 1944 nach Auschwitz deportiert worden sind und diese Tatsache in der Gemeinde Zutphen offiziell registriert wurde. Auch, dass ich seitdem nichts von ihnen gehört hatte, sagte ich. Und ich erzählte ihm von einigen Sinti, die den Krieg überlebt hatten und mir berichteten, dass mein Vater am 13. November 1944 im Lager Mittelbau-Dora gestorben sei ...
Also war alles klar...?
Nichts war klar! Ich werde es nie vergessen. Der Mann presste seine Fingerspitzen gegeneinander und kniff seine Augen zusammen. Über seine Lippen kamen nur drei Worte: „Das zählt nicht.“ Sechs Monate später stand ich dann als junger Marinesoldat an der Steilküste von Madeira. Damit das klar ist: Es geht mir nicht um die Zeit in der Armee. Es geht mir um die Ignoranz und Ungleichbehandlung der Sinti und Roma, die damals viel extremer war als heute.
Wie haben Sie den Ihren Landsleuten konkret geholfen??
Bildung ist das Wichtigste für eine gute Zukunft. Wir haben Schulen gegründet, unterrichten dort unsere Kinder. Wir kümmern uns um soziale Projekte für alle Sinti. Wir haben ein Sinti- und Roma-Archiv im Internet ins Leben gerufen. Und viele andere Dinge mehr. Und wir sind dabei, die Sinti in die neue Zeit zu bringen. Bei uns wurde nie etwas aufgeschrieben. Alles wurde von Mund zu Mund weitergetragen. Auch haben die Sinti einen strengen Ehrenkodex und es gibt vieles, über das wir nicht mit anderen reden dürfen. Das müssen wir aufweichen, denn Verständnis und Toleranz sind keine Einbahnstraße. Wenn wir nicht unbeliebt sein wollen und als Feind wahrgenommen werden wollen, müssen wir offen für das Neue und Andere sein und uns ebenfalls öffnen. Die Welt hat sich verändert. Da müssen wir dabei sein.
Werden deshalb immer mehr Sinti sesshaft?
Ja, die Zeit der Wohnwagen-Romantik mit knisternder Feueratmosphäre und sehnsuchtsvollen Zigeunerliedern nähert sich dem Ende. Überall auf der Welt bleiben die Sinti und Roma an Orten, die ihnen gefallen. Das ist auch gut so, denn dort, wo wir frei sein können und uns wohl fühlen, ist unsere Heimat. Und, um Ihre Frage vorwegzunehmen, nein, wir wollen keinen eigenen Staat. Wir sind dort glücklich, wo wir sind.
Was bedeutet Glück für Sie?
Meine Familie. Meine Enkel. Mein Leben. Sicher, der Anfang war schlecht. Aber ich hatte unendlich viele Chancen und Möglichkeiten. Darüber bin ich dankbar und glücklich.
Glauben Sie an Gott?
Leider habe ich meinen Glauben verloren. Nach dem Krieg. Der Verlust meiner Familie. Das alles sitzt tief und wird mich ewig begleiten.
Sie haben Ihren Glauben verloren, aber wie denken Sie über unsere Päpste.
Das sind doch bewundernswerte Personen, die sich voll und ganz in den Dienst des Menschen stellen. Mein Lieblingspapst war übrigens Johannes Paul der II. Er wirkte auf mich so menschlich und emotional. Auch Franziskus – mit seinem Aufräumen in der Kirche und der vom ihm propagierten Rückkehr an die Basis – gefällt mir gut. Aber Glauben an einen Gott. Seien Sie mir nicht böse, aber das kann ich nicht mehr. Dafür glaube ich an das Gute im Menschen. In jedem von uns! Ich bin Humanist, was ja auch viel mit Glauben zu tun hat.
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Kommentare (2)
Inken
am 02.09.2018Alfred Coenen
am 02.09.2018Auch hier erfüllt die Stadt Gottes(als älteste kath.Familienzeitung in Deutschland)wiederum eine wichtige informatorische und bildende Funktion.