Vorsichtig legt Margrit Bormann, 39, einen alten, zerbeulten Lederkoffer unter die hell leuchtenden Scheinwerfer. Sie stellt die Belichtung ein, kontrolliert die Schärfe und drückt mehrere Male auf den Auslöser. „Das brauchen wir für unsere Dokumentation.“ Margrit Bormann ist Restauratorin. Als 16-Jährige sah sie in einem Film die Sixtinische Kapelle mit den Fresken von Michelangelo und wusste, sie wollte Restauratorin werden, jahrhundertealte Wandgemälde oder Bilder vor dem Verfall bewahren. Doch das Leben sah es anders vor: Seit 2010 ist Margrit Bormann eine von 16 Restauratoren in der Konservierungswerkstatt der Gedenkstätte des größten NS-Vernichtungslagers – im Staatlichen Museum Auschwitz- Birkenau. Ihre Aufgabe: Alles so zu erhalten, wie es vor nunmehr fast 70 Jahren im Konzentrationslager Auschwitz gefunden wurde.
Mindestens 1,1 Millionen Menschen starben in diesem schrecklichsten aller Konzentrations- und Vernichtungslager – die meisten von ihnen Juden aus den von Deutschland besetzten Ländern Europas. „Als Teenager habe ich mich intensiv mit der NS-Zeit und dem Holocaust beschäftigt und immer versucht, das Schreckliche zu begreifen. Ich wollte die Rolle der Deutschen verstehen, mich mit Schuld und Sühne auseinandersetzen“, erinnert sich die junge Frau aus Schneeberg im Erzgebirge. Doch als sie ihr Studium für Restaurierung und Konservierung von Kunst- und Kulturgut in Köln aufnahm, hatte sie mit dem Thema abgeschlossen, wollte nichts mehr über den Krieg, die Gräueltaten und den Holocaust wissen. „Ich war wohl übersättigt“, erinnert sie sich.
Was sie aber nicht ahnte: In Köln gibt es für die Studenten die Möglichkeit, für einige Wochen zum Arbeiten nach Auschwitz zu fahren. „Als der Professor fragte, wer mitkommen möchte, habe ich sofort meine Hand gehoben“, erinnert sich Margrit Bormann. „Das war der Anfang und hat mein Leben verändert.“ Der erste Besuch war traumatisch. Als die Studenten einen Film sahen, der unmittelbar nach der Befreiung des Lagers von den Soldaten aufgenommen worden war, brach Margrit Bormann in Tränen aus: „Ich habe gedacht, ich wäre durch meine Auseinandersetzung mit dem Holocaust gut vorbereitet gewesen. Aber diese Leichenberge, diese ausgemergelten Menschen ...“ Trotz dieser Erfahrungen kam Margrit Bormann wieder, arbeitete unentgeltlich in der Konservierungswerkstatt.
Ihr Praxissemester absolvierte die Studentin ebenfalls im Zentrum des Grauens. „Auch in den Semesterferien bin ich nach Auschwitz gekommen. Das war wie ein Sog. Ich konnte gar nicht anders.“ Es wurde für Margrit Bormann klar, dass sie auch nach dem Studium dort leben und arbeiten wollte: „Also fasste ich mir im letzten Semester ein Herz und fragte, ob die Chance für eine Anstellung bestehen würde.“ – „Wir dachten schon, du würdest nie fragen“, lautete die Antwort. Die Sächsin zog für immer nach Osvicim. Täglich sitzt Margrit Bormann nun an ihrem Arbeitsplatz, schabt behutsam mit ihrem Skalpell die Beschläge alter Koffer frei: „Nur die frischen Korrosionsprodukte, nicht die alten.
Die müssen erhalten bleiben.“ Beulen im Leder, Risse im Futter oder abgeschlagene Metallecken werden nicht ersetzt, die Beschriftungen – wie Namen, Transportnummer und Datum – auf den Kofferdeckeln bleiben: „Wenn es keine Überlebenden mehr gibt, können nur noch die gefundenen Koffer, Brillen, Rasierpinsel, Emailletöpfe, -tassen und -teller, Schuhe, Kleidung, die Baracken und Haare die Geschichte vom Holocaust und von Auschwitz erzählen. 110 000 Schuhe und Teile von Schuhen – Sandalen, Stiefel oder Pantoffeln –, 397 Häftlingsanzüge, 40 Kilogramm Brillen, knapp zwei Tonnen Haar von circa 40 000 Frauen (sieben Tonnen von 140 000 Frauen wurden bei der Befreiung gefunden), über 6000 Zahnbürsten, 13 000 Häftlingsbriefe oder -postkarten, 3800 Koffer, 370 Prothesen, 250 Meter an Dokumenten oder unzählige Kämme werden im Museum aufbewahrt – und das ist nur ein Teil.
Jeden Tag werden Margrit Bormann und ihre Kollegen mit den Relikten der Vernichtungsmaschinerie der Nazis konfrontiert. Das führt oft zu inneren Konflikten. Die Distanz zu den Opfern geht verloren. Während des Studiums spezialisierte sich Margrit Bormann auf Steinobjekte und Wandmalereien. Dabei geht es um den abgeblätterten Putz, den Salzfraß oder Farbverlust. Deshalb ist sie, neben der Arbeit an einem Koffer und Zahnbürsten, so oft es geht, im Keller von Block 15 im Stammlager. In dem Gebäude lebten die Häftlinge auf engstem Raum, teilweise mussten sie zu zweit auf einer Pritsche schlafen, die eigentlich nur Platz für einen bot. Heute ist hier die ständige Nationalausstellung der Polen über die Okkupation durch das Deutsche Reich und die Verbrechen am polnischen Volk zu sehen. Margrit Bormann ist froh, dass sie im Museum Auschwitz-Birkenau arbeiten kann. Sie sagt: „Ich weiß, ich tue etwas Wichtiges. Ich weiß, dass es einen Sinn hat! Denn ich kann mithelfen, dass diese Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.“
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Kommentare (1)
Inken
am 24.09.2019Danke für Ihren Einsatz!