Herr Teltschik, seit 1989 die Mauer gefallen ist, hieß es: jetzt beginnt die Zeit des großen Friedens. Ist es nicht eher so, dass das gesamte System viel fragiler geworden ist und es auch immer mehr kriegerische Auseinandersetzungen gibt? Heute scheint jede Nation zu versuchen, ihr Machtpotential auszuweiten, ohne Rücksicht auf andere. Warum?
Der Eindruck stimmt. Ein großer Krieg zwischen den Atommächten schien so gut wie unmöglich geworden. Das lag wohl auch daran, dass damals die NATO Russland noch als Partner sah. Vorbei. Die Feindbilder sind zurückgekehrt, wie wir alle wissen. Tatsächlich bezieht der russische Präsident Putin einen Teil seiner Popularität daraus, dass er dem Westen Paroli bietet. Für diese Menschen ist der Westen gleichzusetzen mit dem rücksichtslosen Konkurrenten, der ihr Land gedemütigt hat und seinen Einflussbereich immer näher an die russischen Grenzen verschieben will.
Wie konnte es dazu kommen?
Eine entscheidende Rolle spielt die Wiedervereinigung. Deutschland stand vor der Aufgabe, die Integration der ehemaligen DDR sowohl politisch, wirtschaftlich als auch kulturell und sozial zu organisieren. Allein das hat jede deutsche Regierung in die Vollbeschäftigung getrieben. Dabei muss gesehen werden: Alle Regierungen oder Administratoren tun sich schwer, mehrere, gewichtige Themen gleichzeitig zu bearbeiten.
Gleichzeitig steckten wir aber mittendrin in der europäischen Integration, sprich der Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Einführung des Euro. Auch dieser Prozess hat das volle Engagement gebraucht.
Und nicht zu vergessen, die entscheidende Frage: wie sollen die Beziehungen zu Russland gestaltet werden? Beziehungsweise zu den ehemaligen Warschauer Paktstaaten.
Die wurde aber doch beantwortet ...
...mit der Charta von Paris für ein neues Europa. Das war am 21. November 1990. Sie bedeutete das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Ich habe mich damals an den Satz von Martin Luther King erinnert: „I have a dream.“ Dieses Abkommen, das von 32 europäischen Ländern sowie den USA und Kanada unterschrieben wurde, legte den Grundstein für das, was Gorbatschow das „gemeinsame europäische Haus“ nannte. Die Vision – einer Sicherheits- und Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok – schien wahr zu werden.
Ich behaupte bis heute: Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Kontinents hatten wir eine solche Chance bekommen. Wir haben die Prinzipien und Instrumente benannt, nach denen die Charta mit Leben gefüllt werden sollte. Zum Beispiel das Konfliktverhütungszentrum in Wien.
Ich frage Sie hier und heute: Welchen Konflikt haben die jemals gelöst? Das Zentrum fiel nur als Wahlbeobachter auf. Und da haben viele osteuropäische Staaten gesagt, das ist eine Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten.
Das ist traurig...
Sicherlich. Ganz ehrlich: Kaum jemand hat die Möglichkeiten der Charta von Paris wirklich genutzt – zum Wohle aller. Romano Prodi, ehemaliger EU-Kommissionspräsident, reiste damals zu Putin und hat ihm eine gesamteuropäische Freihandelszone vorgeschlagen. Von Lissabon bis Wladiwostock. Ich weiß persönlich von Putin, dass er dafür war. Als ich ihn später fragte, warum sich da nichts täte, zuckte er nur mit den Schultern.
Niemand hat diese Idee weiterverfolgt. Weder die EU noch ihre Mitgliedsstaaten. Ich behaupte: Wenn wir das getan hätten, hätten wir vielleicht das Problem mit der Ukraine nicht bekommen.
Typisch Politiker?
Ich habe in der Politik gelernt: du kannst nur etwas erfolgreich erreichen, wenn du es zu deinem persönlichen Anliegen machst. Nach dem Motto: Das will ich. Auch, wenn es noch so viele Widerstände gibt. Denken Sie nur an den NATO-Doppelbeschluss. Dagegen gingen hunderttausende auf die Straße. Trotzdem hat Helmut Kohl 1983 Wahlen durchgeführt. Warum? Die Leute wussten: Er will das. Er kämpft dafür. Und er geht sogar das Risiko von Wahlen ein. Was ist passiert: Helmut Kohl hat gewonnen.
Ich bin fest davon überzeugt, wenn Politiker Themen zu ihrem ganz persönlichen Anliegen machen, spürt der Wähler das und honoriert dieses Engagement.
Und das haben wir verloren?
Das haben wir verloren. Völlig!
Brauchen wir eine neue Friedensbewegung?
Der Begriff ist für mich relativ. Ich habe die Friedensbewegung Anfang der 80er-Jahre hautnah erlebt. Was war damals der Hintergrund? Wir haben 1975 die Schlussakte KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anm. d. Redaktion) in Helsinki unterschrieben. Alle sagten, dies sei der Beginn der Entspannungspolitik. Tatsächlich aber hatte Breschnew mit einem neuen Wettrüsten begonnen, indem er die SS-20-Mittelstreckenrakete entwickeln ließ. Die war aber nicht gegen Amerika gerichtet, sondern gegen uns Europäer, die Hauptmatadoren der Entspannungspolitik.
Davor warnten Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Als die NATO von den Russen die Abrüstung der SS-20-Raketen forderte und damit drohte: Entweder Abrüstung oder wir stellen eigene Raketen in Europa auf, wandte sich die Friedensbewegung nicht gegen Breschnew, sondern gegen die USA. Das empfinde ich bis heute als grotesk.
Dennoch müssten Sie die These vertreten: Wir brauchen ein konsequentes Abrüsten.
Ja klar, das bestimmt mein ganzes Denken und Tun. Wir brauchen dringend einen neuen Rüstungskontrollprozess mit dem Ziel weltweiter Abrüstung. Das ist vollkommen klar.
Wie bekommen wir das hin?
Wir brauchen einen NATO-Generalsekretär, der vernünftige Verteidigungs- und Abrüstungsstrategien entwickelt, die tragfähig sind. Ganz ehrlich, bei Jens Stoltenberg fällt es mir schwer, daran zu glauben. Als er in München vor zwei Jahren auf der Sicherheitskonferenz eine Rede gehalten hat, hat er nicht einmal die Worte Abrüstung und Rüstungskontrolle in den Mund genommen. Also, wenn selbst der Nato-Generalsekretär in dieser Situation vor einem internationalen Gremium auftritt und nichts zur Abrüstung und Rüstungskontrolle sagt, dann habe ich damit schon ein Problem.
Auch die Europäer müssten sich als Einheit präsentieren und sich auf ihre Hinterbeine stellen, um Abrüstungsverhandlungen einzuleiten. Leider haben die Beitrittsländer im Augenblick alle ihre eigenen Probleme und denken nur an sich.
Ist Donald Trumps Forderung nach Erhöhung sämtlicher Wehretats der NATO-Mitgliedsstaaten auf 2,0 Prozent berechtigt?
Ich halte diese Forderung für nicht akzeptabel. Zwei Prozent bei uns sind etwas anderes als beispielsweise in Litauen. Ich meine, wir müssen so viel ausgegeben, wie wir benötigen. Das kann bei dem einen weniger sein, es könnte unter Umständen sogar mehr sein.
Erstaunlich ist aber doch, dass Länder wie Ungarn und Polen, die ja Vorreiter für die Wiedervereinigung und ein neues Europa waren, sich nun wieder entfernen.
Ja. Ungarn und Polen drängten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ganz schnell in die EU und in die NATO. Ich habe immer gesagt, das nationale Verständnis, das Nationalbewusstsein der Ungarn oder der Polen oder Tschechen war das Instrument der Emanzipation von der Sowjetunion. Nun waren sie endlich souverän, also wollten sie schnell dabei sein. Was ihnen aber nicht klar war, dass sie mit dem Beitritt zu EU und NATO auch wieder Souveränität abgeben. Dieser Widerspruch – wir haben zwar große Freiheiten errungen, dennoch müssen wir uns permanent unterordnen – dieser Widerspruch fällt ihnen so wahnsinnig schwer. Und dieser Widerspruch führt zu dem uns unverständlichen Verhalten und letztendlich auch zur Spaltung der EU und der NATO: Das haben nun auch andere Staaten, wie zum Beispiel Italien aufgegriffen.
Das ist natürlich keine Entschuldigung, für das, was Orban in Ungarn, oder die PiS-Partei in Polen macht. Das halte ich für katastrophal. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass die Geschichte darüber hinweggehen wird.
England hat auch genügend Konflikte...
...der Brexit ist eine Katastrophe. Mein Freund Lord Powell sagte mir, Margaret Thatcher wäre nie aus der EU ausgetreten. Das ist der Unterschied zu Cameron, der mit seinem Vabanquespiel fürchterlich baden gegangen ist.
Wo sehen Sie Deutschland in 10 Jahren?
Hoffentlich als Führungsmitglied in einer starken Europäischen Union. Und als Motor der Verständigung mit Russland.
Weitere Fragen und Antworten lesen Sie bei uns im Heft.
Kommentare (1)
Inken
am 24.01.2020